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Der Frosch auf dem Herd und Depressionen

 

Nach meinem letzten Blogbeitrag zum Thema Entfremdung und Depression bin ich nun nach „DER“ Lösung des Dilemmas gefragt worden. Und prompt habe ich einen Blogbeitrag gefunden, der mich da sehr ansprach.

Im  tollen englischsprachigen Blog Brainpickings bin ich auf eine sehr schöne Metapher = Bild gestossen, die gut an meinen letzten Blogbeitrag zum Thema Entfremdung und Freiheit anknüpft. Es stammt aus einem Buch aus dem Jahr 1949 mit dem wunderbaren Titel „How to Avoid Work“, das allen Menschen gewidmet ist, die die Arbeit nicht mögen (oder gar hassen).

Es geht um einen Frosch, der in einem Kochtopf auf dem Herd sitzt. Langsam wird der Herd angeheizt und das Wasser wird heisser und heisser.

Der Frosch fühlt sich unwohl und wird unruhiger. Er wird mal aggressiver und schlägt um sich. Schliesslich wird er aber erschöpfter bzw. wird „eingelullt“ und verpasst den Zeitpunkt, um aus dem Topf zu springen bis er schliesslich das Bewusstsein verliert und zu Grunde geht.

Na ja, Froschschenkel sollen ja auch ganz lecker sein ….. Brrr….

Hier schön graphisch dargestellt am Beispiel Überwachung und Kontrolle in der Gesellschaft :

Diese Metapher von Lewis Hyde bezog sich auf die Arbeitswirklichkeit um 1949 für Arbeitstätigkeiten und Umstände, die dem Individuum nicht liegen bzw. die sie oder er nicht mag. Oder die zu schnell oder zu langsam, zu laut oder zu leise und damit überhaupt nicht auf die individuelle Regulationsdynamik, Interessen und Neigungen des jeweiligen Menschen abgestimmt sind. Entfremdung halt. So eine falsche Umgebung muss Druck und Angst auslösen.

Nun verändern sich ganz langsam die Rahmenbedingungen. Die Anforderungen werden etwas erhöht, die Unterstützung wird etwas zurückgenommen. Nicht weiter schlimm. Manchmal wird es auch wieder besser, die Temperatur sinkt also wieder. Nur man verliert das Gespür dafür, wie es denn für mich persönlich sich anfühlt, wenn man nur schaut, was die Anderen wohl noch aushalten können.

Wie es in dem Video so schön heisst, man müsste jeweils mal kontrollieren, wie heiss denn das Wasser schon ist.  Das Empfinden für die richtige Badetemperatur ist aber individuell. Nur nach den anderen zu schauen, kann gefährliche Ausmaße annehmen. Genauso, wie eben nicht auf den eigenen Wohlfühlbereich zu achten.

Und jünger werden wir eben auch nicht. Damit lassen die Kompensationskräfte eben auch ganz natürlich nach, möglicherweise spielen hormonelle Veränderungen und Schwankungen dann auch noch reine Rolle.

Aber eine Temperaturanzeige für das eigene emotionale Empfinden haben die meisten Menschen nicht.  Oder die Anzeige funktioniert nicht bzw sie haben nicht die neuropsychologische Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstregulation. Dann kommt es häufig zum Druckanstieg im Kochtopf, was ich ja auch schon zum Thema des Blogs hier gemacht habe..

In der Psychotherapie der Borderline-Störung beschreibt man ja so schön, dass auf einem Gefühlsthermometer zwischen 30 und 70 Grad noch Handlungsmöglichkeiten bestehen. Über 70 bis 100 Grad ist dann eben die Eigenregulation quasi nicht mehr möglich. Aber gerade da wäre es nötig, wenn man nicht frühzeitig runterregulieren kann. Besonders dann nicht, wenn eben das eigene Ventil für die Druckregulation nicht funktioniert bzw. die Selbstüberwachung bzw. Selbstkontrolle der eigenen Gefühle eben nie gelernt wurde und ständig in Frage gestellt wurde.

Gut, der Frosch beschliesst aus dem Kochtopf zu springen, bevor der Kessel kocht. Stellt sich nur die Frage : Wohin ? Wie soll das gehen, mit all den Abhängigkeiten und finanziellen und sonstigen Verpflichtungen.

Schreibe ich doch, dass man sich keine Ziele setzen sollte, die man nicht erreichen kann. Weil man dann noch frustrierter und ängstlicher aus dem Kochtopf schaut.

Erstmal sollte man sich als Frosch so die Frage stellen, ob ein Kochtopf ein guter Aufenthaltsort ist oder doch lieber ein kleiner Teich oder Bach. Ich muss mir also auf jeden Fall das richtige Umfeld bzw. eine passendes Biotop.
Auch unterscheiden wir uns individuell, welche Umgebungsbedingungen oder Tempo oder Besiedelungsdichte uns nun gut tut.

Vor einigen Tagen hatte ich dazu ein schönes Beispiel einer Patientin, die in einen ungünstigen Kochtopf gesprungen war. Nicht freiwillig.

Früher hatte sie als Betreuerin in einer Wohngruppe für Jugendliche gearbeitet. Dazu musste sich aber mit dem Auto ziemlich weit pendeln. Die ansteigenden Benzinkosten und die zeitliche Belastung führten dann dazu, dass sie diesen Job aufgab. Es rentierte sich einfach wirtschaftlich nicht mehr.

Nun wechselte sie in die Altenbetreuung in einem Seniorenheim. Näher dran, etwas schlechter bezahlt. Die Bedingungen wurden von Jahr zu Jahr schlechter, ihre Kraft nahm entsprechend ab.

Aber sie ist ja in diesem Bereich ungelernt und vermutlich sieht es in den anderen „Kochtöpfen“ der Altenpflege nicht besser aus. Sie blieb.

Als dann im familiären Umfeld Belastungen hinzu kamen bzw. durch die Strompreiserhöhungen und Kürzungen von Weihnachtsgeld bei ihrem Mann die Situation brenzelig wurde, konnte sie nicht mehr.

Es kam zu Konflikten mit Kolleginnen und sie wurde gereizter bzw reagierte impulsiver und verbal aggressiver gegen die alten Menschen.
Sie könne keine alten Menschen mehr sehen. Selbst bei uns in der Klinik, reagiert sie dann aggressiv auf Mitpatientinnen und Patienten aus dem Orthopädie-Bereich, die an Unterarmgehstützen laufen.

Nun ja. Die Temperatur ist wohl am sieden. Aber ist das ein Grund für eine Berentung ?

Ich denke nicht. Es gehört natürlich auch mit zu den eigenen Verantwortungen, sich jeweils mit der eigenen privaten und beruflichen Lebenssituation zu beschäftigen. Darauf frühzeitig zu reagieren, wenn die Wohlfühltemperatur überschritten ist.

Manchmal ist die Kündigung und ein Neuanfang unumgänglich. Und das ist (leider ?) keine Leistung der Krankenkasse oder Rentenversicherung.

Freiheit und Entfremdung der Gesundheit als Ursache von Depression ?

Ich bin kein Philosoph und das Denken über Freiheit und Geist sollte man vielleicht daher wirklich besser nicht Ärzten oder Psychotherapeuten überlassen.

Aber in den vergangenen Tagen hat es mich irgendwie schon nachdenklich gemacht, wenn der Friedensnobelpreis an die Schülerin Malala Yousafzai und an Kailash Satyarthi an Aktivisten für ein Recht auf Bildung bzw. Gleichberechtigung  verliehen wird. Natürlich ist Pakistan schön weit weg. Das Recht auf Bildung soll und muss auch für Mädchen in Entwicklungsländern gelten. Und von den bösen Islamisten eingehalten werden. Mit UNS hat das ja nichts zu tun, oder ? Schön weit weg.

In Spiegel-Online las ich da vom Nobel-Komitee

Kinder müssten die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen, und müssten vor Ausbeutung geschützt werden,

Wir feiern dann das Jubiläum der Deutschen Einheit und freuen uns über die gewonnene Freiheit. Was immer das dann sein mag bzw. für den Einzelnen bedeutet. Ich habe dadurch meine Frau aus Sachsen überhaupt kennenlernen  können oder beispielsweise jetzt in Sachsen-Anhalt arbeiten können. Für andere Menschen mag es weniger schöne Konsequenzen gegeben haben. Brüche bzw. ständige Neuanfänge in den Lebensläufen kennzeichnen beispielsweise hier „im Osten“ häufig die Biographien meiner Patientinnen und Patienten. Sie gehören nicht immer zu den Gewinnern der Freiheit, obwohl man sie vielleicht als „freier“ bezeichnen würde bzw. welche Folgen diese Freiheit für den Einzelnen hat(te. Freier fühlen tun sie sich häufig nicht. Was keine politische Bewertung von Systemen oder Diktaturen ist. Sondern ein Gefühl von Unfreiheit bei doch so anscheinend vorherrschender Freiheit und Überfluss. Wobei eben auch Überfluss bei vielen leider eben gar nicht festzustellen ist,…

Die Frage, die man sich dann aber nicht stellt ist, wie denn dieses berechtigt hoch gefeierte Recht bzw. die Verfügbarkeit von Freiheit und Bildung bei uns vor der eigenen Haustür dann gelebt wird. Kinderarmut in Deutschland ist kein Randphänomen mehr, es ist gelebte Realität.  Selbst wenn die Kinder zur Schule gehen, so verlassen 20 Prozent die Schule ohne Schulabschluss. Und in Interviews wissen immer weniger Leute selbst die banalsten kulturellen Zusammenhänge. Ein Beispiel gefällig : „Warum feiern wir Weihnachten ?“ wird nicht gewusst. Bildung ist dann etwas für die Anderen. Oder soll zu Hause statt in der Schule durch die Eltern übernommen werden.
Und selbst für die „Mittelschicht“ wird es immer schwieriger, ein Einkommen zu erwirtschaften, dass ein Auskommen ohne ständigen Stress und Angst ermöglicht.

Gerne reden und schreiben wir von Missständen von Diktaturen, Armut und sonstigen Katastrophen und übersehen, dass es vor der eigenen Haustür immer ungesünder und ungerechter wird.

Angeblich, damit so was wie der Sozialstaat bzw. Freiheit bzw. das Solidarsystem wie Krankenversicherung oder Rentenversicherung  geschützt wird. Aber mit welchen Konsequenzen ? Tja, die Sachzwänge seien halt so.

Freiheit ist mehr ein philosophischer Begriff. Und dann geht es bis (oder vor) zu Hegel zurück, der sich damit auseinander setzte. Freiheit hat aber ganz viel mit jedem von uns individuell zu tun. Eigentlich nur. Freiheit ist sehr individuell. Das grosse Ganze ist das letztlich egal, bzw. viel zu abstrakt, um auf mich oder dich zu wirken.

Freiheit bedeutet , dass man auf sich selber zurückgeworfen ist. So wie ich Freiheit erleben möchte, so muss ich selber anderen Menschen Freiheit zusprechen bzw. ihnen Freiräume lassen.

Zuallererst geht es aber um die Freiheit des Einzelnen. Damit meine ich nicht Egoismus. Damit meine ich, dass man eben allein dafür verantwortlich ist und bleibt, wie und wo man sich frei fühlt und frei verhält. Und dann natürlich die Grenzen der Anderen respektvoll einhält. Taktvoll ist.

Freiheit bedeutet, dass man Grenzen hat und Grenzen einhält. Das nennt man dann bei Kindern Erziehung

Wobei es natürlich grosse individuelle und damit subjektive Unterschiede gibt, was man als taktvoll erlebt, bzw. wo die persönlichen Grenzen der Freiheit überschritten sind. Das muss man wahrnehmen und auch notfalls offen äußern können, sich also abgrenzen oder zurückziehen können. Selbst-regulieren halt. Das wäre dann Gesundheit. Wobei dabei auch die Möglichkeit für eine weitere freie Entwicklung bzw. Entfaltung gemeint ist. Oder wie ich gerne gegenüber meinen Patientinnen sage : Artgerechte Haltung sollte nicht nur für die Schweine oder Weihnachtsgänse gelten, sondern auch für uns Menschen. Freiheit hat also viel mit der Fähigkeit zu tun, auf Stressoren reagieren zu können und zu dürfen.

Merkwürdigerweise ist der Aufschrei bei Missachten der Schweinerechte gross. Wobei dann schnell mit juristischen Winkelzügen aus einem Haltungsverbot gegen eine natürliche Person (hier der Züchter) eine Ordnungswidrigkeit mit erneuten Strafzahlungen für die Gesellschaft (und gleichzeitiger Abzugsfähigkeit bzw. Ausgleich über irgendwelche EU-Mittel) wird und die Haltung dann der „juristischen Person“ (= Betrieb) weiter erlaubt werden wird. Ich bin sehr für Tierschutz, aber manchmal frage ich mich, warum der Aufschrei da soviel lauter ist als bei Missachtung von selbstverständlichen Haltungsbedingungen für uns Menschen ?
Viele Schweine haben inzwischen mehr Bewegungsfreiheit im Leben als Menschen. Dafür leben sie kürzer und enden als Schnitzel. Und die Menschen ziehen dann als Konsequenz vor, Veganer zu werden. Sie schränken sich weiter ein, um die Grenzen von Anderen (Tieren) zu achten.

Wenn es um die Freiheit bzw. Freiheitsgrade des Einzelnen geht, sollen wir aber schweigen. Sonst fürchten wir (metaphorisch gesprochen) auch auf der Schlachtbank geopfert zu werden.

 

Entfremdung ist dann ein Zustand, bei dem ein natürlicher (bzw. sich selbst regulierender) Prozess von Beziehungen zwischen Menschen bzw. zwischen Mensch und Natur aufgehoben, verkehrt oder zerstört wird. Entfremdung ist damit so was wie Dissoziation bzw. Zergliederung und Zerteilung, bzw. ein Aufheben von natürlichem Anstand bzw. Wahrnehmung und Einhalten von Bedürfnissen wie Schlaf, Hunger, Sexualität oder Erholung und Ausgleichsmöglichkeiten. Aber eben auch von individuellen Bedürfnissen nach Abstand und Nähe, der Einhaltung von individuellen Arbeits-Tempo oder eben einem „entschleunigteren“ Lebensstil. Und wir leben mit immer mehr Menschen zusammen, die damit nicht mehr klarkommen können. Auf die wir dann aber auch wiederum Rücksicht nehmen müssen, weil sie ja damit nicht klarkommen. Wir sind ja anständig und sensibel.

Das ist nun nicht erst seit der Erfindung von Fliessbändern in der Automobilindustrie so. Damit wird es wieder sehr politisch bzw. gesellschaftlich relevant. Entfremdung ist das Aufheben bzw. Verunmöglichen von Selbstregulation über Freiheitsgrade bzw. eine selbst-getaktete bzw. selbst eingeteilte Lebenswirklichkeit.

Wenn man so will, ist also im medizinischen bzw. psychotherapeutischen Sinne Entfremdung das Gegenteil von Achtsamkeit. Entfremdung ist aber eben auch so ein Phänomen wie Mobbing oder Burnout und muss doch früher oder später in Depressionen münden.

Hierzu ein Beispiel einer unserer Patientinnen :

Sie kam zu mir, nachdem es bei uns in der Kunsttherapie zu einem Konflikt mit Mitpatientinnen kam und sie dann erregt und verletzt die Gruppe verlassen habe.

Sie erzählte mir, dass sie besonders unter Schlafstörungen leide. Sie schlafe zwar aus Erschöpfung abends ein, wache dann aber in der Nacht früh wieder auf und könne nicht einschlafen. Sie habe Kopfschmerzen, Tinnitus und leide unter unerklärlichen Durchfällen, die ihre Bewegungsfreiheit im Alltag zusätzlich einschränkten. Zudem leide sie unter Depressionen. Es würde von Tag zu Tag schlimmer und sei nicht mehr aushaltbar. Sie müsse sich von den anderen Menschen zurückziehen und könne kaum noch das Haus verlassen.

Es müsse anders werden. So sei sie nicht arbeitsfähig und sie sei so ganz und gar verzweifelt, dass man da nichts machen könne.

Wie viele unserer Patientinnen hier in Bad Kösen hat sie bereits zahlreiche Berufe bzw. Tätigkeiten hinter sich, die mit ihrem ursprünglichen Ausbildungsberuf in der damaligen DDR nicht viel zu tun haben. Derzeit arbeitet sie als Altenpflegerin im ambulanten Bereich. Sie ist damit einerseits strikten Taktvorgaben über die zur Verfügung gestellte „Pflegezeit“ ausgeliefert, muss die Fahrtstrecken zwischen den Einsätzen im Sauseschritt bei Schnee und Dunkelheit wie im Sommer meistern und dann eben die zunehmende Vereinsamung, aber auch durch Demenz bzw. Schmerzen und Pflegezustand bedingten Unzufriedenheiten ihrer Klienten aushalten.  Sie habe häufig Wechselschichten, d.h. müsse bis abends spät arbeiten und dann schon früh am nächsten Morgen wieder raus. Das gehe auf die Substanz. Sie habe das vielleicht früher noch etwas besser wegstecken können. Die Arbeit muss ja erledigt werden und immer mehr jüngere Kolleginnen und Kollegen versuchen, diesem Mühlrad zu entkommen. Sie hätten ja Schulkinder und könnten daher nur ganz bestimmte Touren übernehmen. Schon gar nicht morgens. Schliesslich  seien ja die Schulzeiten wie sie sind. Und meine Patientin solle / müsse auf diese Sachzwänge Rücksicht nehmen und dann nehmen, was übrig bleibt. Das gelte dann natürlich auch für die Ferienzeiten.

Ihr Mann wiederum sei als Fernfahrer tätig. Er sei eigentlich nur am Samstag den ganzen Tag da. An diesem Tag müsse dann die Wäsche gemacht und alle möglichen Vorbereitungen für die nächste Woche erledigt werden. Gemeinsame Zeit oder gar Unterstützung habe sie selten. Sie sei es aber auch gar nicht anders gewöhnt.

Schliesslich habe sie noch eine erwachsene Tochter. Die sei auch sehr eingespannt. Seit einigen Monaten habe sie einen unerfüllten Kinderwunsch. Da es mit dem Kinderkriegen nicht geklappt habe, habe sie sich als Ersatz ein Pferd angeschafft. Schon allein, um nicht weiteren Druck auf die Tochter auszuüben, habe sie sich mit in der Pflege des Pferdes beteiligt, obwohl sie ja nicht reite. Schlimmer noch sei aber, dass jetzt gemeinsame Esszeiten mit der Tochter bzw. Kontakte sich nach der freien Zeit des Pferdes richten würde. Das käme ihr auch merkwürdig vor, sie traue sich aber nicht, dies mit ihrer Tochter zu besprechen. Ein Pferd sei ja schliesslich kein Fahrrad, dass man so in die Ecke stellen könne.

Die Patientin selber kennt es aber kaum anders. Bereits in der Kindheit hat sie früh die Verantwortung für ihre jüngere Schwester übernommen, sie häufig in die Krippe gebracht, da die Mutter eben auch berufstätig war. Der Vater sei häufig alkoholisiert und auch auch gewalttätig gewesen. Sie habe viele Spannungen erlebt und habe versucht, die Schwester zu schützen. Sie selber habe dann versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Um nicht noch mehr Angriffsfläche zu liefern. Die Kindheit sei ihr eigentlich überhaupt nicht in schöner Erinnerung. Eigentlich habe sie keine Erinnerung bzw. einen Zugriff auf Gefühle. Sie habe offenbar da eine doppelte Buchhaltung machen müssen. Für ihre Schwester habe sie heile Welt gespielt, in einer Welt, die aber nur vordergründig heile sei.

Sie hätte ja ihre Schwester verraten bzw. schutzlos zurückgelassen und sie könne ja auch nicht Freiheiten ihrer Tochter oder ihres Mannes wegnehmen. Die würden dann nämlich entsprechend erbost bzw. gekränkt reagieren. Und das wolle sie ja auch nicht.

„Es“ muss anders werden. Tja. Wer oder was auch immer „Es“ ist. Es ist nun in ihr Leben getreten und stört dort. Das haben wir ja häufiger. Es mault und quengelt, sorgt für Schlafprobleme bzw. Schlaflosigkeit und jede Menge körperliche Beschwerden. Psychosomatik halt.

Aber die Patientin ist noch gar nicht soweit, dass sie nun Ansatzmöglichkeiten für eine Veränderung bei SICH sieht.

Es soll ja anders werden. Nicht SIE. Oder zumindest sollten die ANDEREN sich ändern oder sich für SIE einsetzen. Ärzte, Therapeuten, ihr Mann. Wer auch immer.

Aber was sollte SIE denn schon gross tun können ?

Tja, welche Ansatzmöglichkeiten für die Wiederherstellung von Freiheit und Gesundheit seht Ihr ?

Verbitterungsstörung und Ausstieg über den Notausgang

Jedes Kind bekommt mit den ersten Zähnen beigebracht, auf die eigene Gesundheit zu achten. „Putze die Zähne, sonst verlierst Du einen Zahn“, „zieh dich warm an, sonst erkältest Du dich“ und so weiter. Bloss keine Infektion im fremden Klo, also Hände waschen.

Psycho-Hygiene oder eine Art selbstsorgsamer Umgang mit der eigenen emotionalen Hygiene und Abwehrkräfte kommt aber irgendwie nicht vor.

Neulich habe ich einen Beitrag im Fernsehen über Männer-Medizin gesehen. Sinngemäss ging es darum, dass Männer so ab 45 oder aufwärts halt gesundheitlich häufig auf dem Zahnfleisch gehen, weil sie nicht wahrnehmen können oder wollen, dass sie keine 21 mehr sind.

Das hat nicht nur was mit dem eigenen Ego zu tun, sondern hat handfeste Auswirkungen auf die Gesundheit. Rauchen, Alkohol, Bewegungsmangel, Übergewicht , Rückenschmerzen  oder mal eine oder mehrere durchzechte Nächte steckt man in jungen Jahren leider wesentlich besser weg, als nun im „Mittelalter“. Ganz zu schweigen von sexuellen Funktionsstörungen oder gar Prostata-Hypertrophie….

Männer haben offenbar ein größeres Talent, dies zu übersehen. Das treibt sie seltener zum Arzt oder gar Psychotherapeuten  und noch seltener in psychosomatische Kliniken als nun ihre gleichalten Lebensabschnittsbegleiterinnen.
Während das Auto spätestens im Oktober nicht nur eine Generalüberholung, sondern auch neue Winterreifen und Frostschutz sowie einen Ölwechsel spendiert  bekommt, wird ein eigener Gesundeits-Check auf „später“ verschoben. Geld für die eigene Gesundheit ausgeben, ist nicht drinn. Für die eigene psychische Gesundheit wird allenfalls ein Duftbad für die Frau Gemahlin in Erwägung gezogen.

Leider manchmal  mit der  „Nebenwirkung“, dass allein bei uns im Dorf dann etliche Männer im besten Alter  plötzlich und unerwartet einen tödlichen Herzinfarkt und sonstige Gründe für vorzeitiges Ableben fanden. Meistens trifft es die Falschen.
Jedenfalls scheint es aus welchen Gründen auch immer Männer nicht so emotional zu tangieren, dass ihre Belastungsgrenzen und körpereigenen Reparaturmechanismen der Regeneration und Selbstheilung über Nacht nun irgendwie immer weniger gut greifen.

Bis zu einem bestimmten Punkt klappt also die körpereigene Regulation und Regenerationsleistung noch „automatisch“, aber irgendwann wäre sowas wie gesundheitsbewusstes Verhaltens angebracht. Bei dem EInen früher als bei Anderen. Menschen aus dem ADHS-und Autismus-Spektrum gehören eher zu den „früher“ Betroffenen.

Häufig fängt die neuropsychologische Fähigkeit zur Selbstüberwachung des eigenen (Gesundheits-)Verhalten  erst mit dem ersten Warnschuss in Form eines überlebten Herzinfarktes oder aber sonstiger einschneidender Erlebnisse. Bei anderen Menschen (z.B. aus dem ADHS-Spektrum) möglicherweise deutlich verspätet bis nie.

Bis es bei Dir selbst oder in dem eigenen beruflichen oder privaten Umfeld dann doch einschlägt.

Dann aber häufig unter großem Wehklagen bzw. einem emotionalem Weltuntergangsgefühl. Wie halt Männer so sind, wenn ihr Gefühl von Unverletzbarkeit und ewiger Jugend durch die ersten grauen Haare in Frage gestellt werden. Erste Zeichen der Midlife-Crisis… Alarm !!!!!!

Ich will nun wirklich nicht behaupten, dass Man(n) darauf nun stolz sein sollte oder dies nun erstrebenswert wäre.  Und die üblichen (?) dysfunktionalen Versuche der Midlife-Crisis nun sich selber neu zu erfinden oder von aussen über Statussymbole oder gar neue Freundin kurzzeitig „feiern“ zu lassen, sind natürlich eher peinlich als wirksam. Männer werden aber eben seltener psychosomatisch / psychiatrisch krank. Bei uns in der Klinik (sogar unter Einschluss der orthopädischen Patienten) ist das Verhältnis etwa 25 : 75 Männer zu Frauen.

Sie (bzw. Mann)  sind aber dennoch dann unzufrieden bzw. dysphorisch und machen dafür ihre Familie kirre bzw. verrückt. Und krank. Oder tyrannisieren ihre Arbeitskolleginnen. Die anderen sind dann schuld.

Anders ausgedrückt : Männer scheinen nun in gewisser Weise emotionale und körperliche Selbstwahrnehmung häufig kaum in Übereinstimmung zu bringen. Sie trennen (dissoziieren) da ihre Wahrnehmung. Und sie werden emotional total unflexibel und verursachen damit Generve bzw. Irritation in ihrem Umfeld.

Das ist alles andere als ein Zeichen von Gesundheit, wird aber eher in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Rollenerwartungen und Anforderungen zu halten sein. Damit meine ich, dass dieses Nicht-Wahrnehmen durchaus auch eine Art Schutzfunktion haben kann.

Auch wenn Frauen nun natürlich nie älter werden (dürfen), sind auch sie nun hinsichtlich ihrer körperlichen wie auch emotionalen Selbstüberwachung uns Männern irgendwie „voraus“.
Aber eben nicht nur auf der körperlichen Belastungsebene, sondern auch auf der emotionalen Empfindungsschmerzgrenze.

Wer empfindsamer ist, gilt aber als „schwach“.

Schwachleister

Begriffe wie „Schwachleister“  sind offenbar nicht nur bei der Post geläufig. In einem Fürsorglichen Personalgespräch wird auf Mitarbeitern in zunehmend mehr Branchen ein Druck ausgeübt, einen „flexiblen“ Personaleinsatz zu unterstützen.

Das bedeutet dann zunehmende Kündigungen, größerer Zustellbezirk, Mehrarbeit durch Ausfall von Kollegen und Kolleginnen und emotionale Daueranspannung durch die Angst, dass der Arbeitsvertrag befristet ist.

Was heisst das aber in der Praxis ? Gerade in Branchen, in denen berufstätige (häufig noch alleinerziehende) Frauen tätig sind, wird über befristete Arbeitsverträge und eine zunehmende Rationalisierung (ein hier eher unpassender Begriff) von Arbeitsplätze eine Verdichtung von Arbeit und eine Takt-losigkeit in Kauf genommen.

Eine Entfremdung von normalen biologischen Tag-Nacht-Rhythmen, immer längerer Anfahrtswegen und eben der Forderung nach „Flexibilisierung“. Was aber zu einer genau gegenteiligen Entwicklung für die Psyche führen muss.

Die „Flexibilisierung“ muss zur Verhärtung und Verbitterung beitragen, wenn es dafür keinen Ausgleich gibt. Ich habe ja schon in dem Beitrag zum Zeitnotstand bzw. der neuen Armut genau in diese Kerbe geschlagen. Flexibilisierung für einen Arbeitgeber führt dazu, dass die Handlungfreiheiten und Möglichkeiten zur Anpassung für den betroffenenen Arbeitnehmer eingeschränkt und aufgehoben werden.

Wir hatten und haben.  immer wieder Mitarbeiter aus Call-Centern, den Discount-Einkaufsmärkten oder Schein-Selbstständigen Kurierfahrern etc, die in eine ähnliche Zwickmühle geraten, die dann in eine Erschöpfungsdepression führen muss.

Speziell dann, wenn das familiäre Umfeld dieses Ausnutzen seitens der Arbeitsgeber nicht mehr mitmachen (können) bzw. eigene Angehörige wie pflegebedürftige Eltern oder aber Kinder zu versorgen sind.

Dann von „Schwachleistern“ zu sprechen, die die völlig unrealistischen Zielvorgaben eines Managers bzw. leitenden Angestellten nicht erfüllen, ist an Abgebrühtheit und Unanständigkeit  nicht zu überbieten.

Burnout scheint mehr oder weniger lieber auf die dagegen ja fast trivial wirkende Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens bei Managern begrenzt zu werden.  Letztlich müsste man dann eben genau den Politikern bzw. Arbeitgebern genau die psychische Notlage wünschen, die sie letztlich mitverantworten.

Neurotypische Menschen mögen damit noch klar kommen. Menschen mit psychischen Belastungen bzw. einer besonderen Empfindsamkeit werden dann aber „Aussteigen“. Entweder in Resignation, in Irritation oder in Aggression.

Es ist schrecklich dann  zu hören, dass ein Job-Center-Gutachter umgebracht wurde. Aber die Leidtragenden sind dann eben eher die Mitarbeiter und weniger Diejenigen, die die Bestimmungen und Gesetze und die dazu unpassenden Ausführungsbestimmungen durchsetzen. (Womit ich keinesfalls in irgendeiner Form den Mord an dem Gutachter relativieren möchte). Es geht mir eher darum, dass die Auswirkungen einer veränderten Gesellschaft bzw. sozialem und beruflichem Un-Gerechtigkeitsempfinden die Arbeitsnehmer zu schultern haben.

Diejenigen, die das wahr-nehmen, wären eigentlich „gesund“. Wir bezeichnen sie aber als krank, weil man so zugeben müsste, dass die Struktur bzw. das Umfeld krank ist. Verkehrte Welt.

Gibt es ein „zuviel“ von Gesundheit ?

Gerade als Arzt bzw. Psychotherapeut erlebe ich nicht selten hochsensible bzw. sehr kluge und feinfühlige Frauen (und natürlich auch mal Männer), die „zu gesund“ für diese Welt sind.
Damit meine ich, dass sie sehr reizoffen und sensibel Missstände und Unzulänglichkeiten in ihrer sozialen wie beruflichen Umgebung erfassen. Aber eben nicht verändern können.

Es ist blöd, wenn man so gesund (im Sinne von gut-mütig und achtsam) und feinfühlig ist, dass man einen Miss-Stand spürt, ihn aber nicht verändern kann. So wie ADHS-Kinder eben Indikatorkinder für strukturelle bzw. persönliche Schuldefizite von Schulen bzw. Lehrkräften sind, so sind sehr häufig Burnout oder Erschöpfungsdepressionen in einer Abteilung eben vermehrt zu finden. Sie sind Indikator für eine verpestete emotionale Atmosphäre bzw. eine inhumane Entwicklung bestimmter (nicht aller) Arbeitswelten.

Bedingt durch eigene Schlafstörungen habe ich ein hörenswertes Interview mit Norbert Blüm zu seinem Buch „Einspruch“ gehört. Es ist eher eine Polemik oder teilweise zynische Anklage über Missstände in unserem Justizsystem. Er prangert ein Verlust bzw. geradezu eine Verachtung der Anständigkeit durch verschiedenste Beteiligte der Justiz an und gibt genug Beispiele, die dem gesunden Menschenverstand an Gerechtigkeit und Anstand der Justiz zuwider laufen. Und es ist ja nicht nur die Justiz, Und er sagte :

Mit der Verachtung der Wahrheit beginnt die Ungerechtigkeit.

Viele Menschen erleben ein Gefühl des Ausgeliefertsein bzw. der erlebten Hilflosigkeit und (auch objektiven) Ungerechtigkeit im Zusammenhang mit Arbeitgebern,  Behörden, Schule, Krankenkasse oder Rentenversicherung, Job-Center oder ihrer Bank und und und. Sie werden objektiv gesehen unfair bzw. zumindest hart am Rande der juristischen Legalität behandelt. Und es wird ihnen zugemutet, dass sie dann juristische Wege in Kauf nehmen  müssten, wenn ihr gutes Recht eben aus Kostengründen zunächst nicht gewährt wird. Und es ist inzwischen allein aus finanziellen Beweggründen der Städte   fast schon die Regel, dass die Wahrheit bzw. der Weg zu eigenen berechtigten Ansprüchen und Hilfen von den zuständigen Stellen mit Verachtung gestraft werden.

 

Zudem gibt es fast  überall  an Arbeitsstätten den oder die „unaushaltbare“ Kollegin oder aber ein Vorgesetzter, der nun nur Kraft irgendwelcher Beziehungen oder Seilschaften in eine Position gekommen ist, in der er oder sie nicht hingehört. Wo ein Betrieb oder eine Organisation wesentlich besser funktionieren würde, wenn diese emotionale Vergiftung des Arbeitsklimas eben zu den von mir oben genannten Männern gehören würden, die vorzeitig und unerwartet ihrer Witwe ein sorgenfreieres Leben ermöglichen würden. Leider haben ausgerechnet diese Menschen offenbar eine stabile Abwehr bzw. werden nicht krank. Sie lassen krank werden.

Wenn sie wenigstens wegbefördert würden…. Was aber nicht passiert, weil ja allgemein in der Firma bekannt ist, dass diese Person nun ganze Abteilungen in den Krankenstand des Burnout oder einer Erschöpfungsdepression treiben kann.

 

Diese fortgesetzte Missachtung der eigenen Anständigkeit bzw. von Echtheit und Wahrheit, führt zur Verbitterung. Zumindest dann, wenn in der eigenen Biographie sich schon ähnliche Hilflosigkeitserfahrungen bzw. Macht-Strukturen auffinden lassen, die also einen ungünstigen Nährboden für das Wiedererleben eines solchen bitteren Schmerzes ermöglichen.

Auch wenn die von Prof. Linden aus Berlin als Verbitterungsstörung bezeichnete Problematik keine offizielle DSM- oder ICD-Diagnosekategorie ist, so finden wir immer häufiger Patientinnen und Patienten, die eine solche Problematik aufweisen.

Ich bin sehr froh, dass ich bei meinem derzeitigen Arbeitgeber ein Umfeld von Gesundheit gefunden habe, wo ich solche Störfaktoren minimieren kann. Oder besser damit umgehen kann.

 

Selbstwirksamkeit über innere Bilder stärken

Positive Gefühle sind positive Nachrichten

Durch meine Aktion „Poste Positive Postings“ habe ich eine Erfahrung gemacht, die man sonst eigentlich nur in so mehr oder weniger sinnfreien „Sinnsprüchen“ macht :

Das beste Gefühl in der Welt ist mehr oder weniger zu wissen, dass man einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Ein Schritt vorwärts in eine Zukunft, in der auch positive Entwicklungen möglich sind, die Du vorher nicht für möglich gehalten hast.

Egal, ob sich die Idee von #ppp Poste Positive Postings um 18 Uhr nun durchsetzt oder nicht. Es hat mir persönlich dann sehr viel gegeben, die ersten positiven Reaktionen darauf zu lesen.

Positive Nachrichten bzw. gute Erfahrungen sich in sein Bewusstsein zu rufen, ist eine sehr wirksame Methode der Positiven Psychologie.

Und dadurch wusste ich, dass es eine richtige Richtung, ein richtiger Schritt war bzw. ist.

Dieses Gefühl ist traumhaft. Es ist bei mir ein fast federleichtes, goldenes Gefühl. Ein rundes Gefühl, dass sich vielleicht mit einem schönen Spaziergang am Meer, mit einem freien Blick über eine offene Wasserfläche bzw. ein Hauch von Bergluft am Morgen vergleichen liesse.

Zumindest bei mir.

Genauso schön ist es, Kinder oder eben auch einmal Klienten bei der Entwicklung von neuen Erfahrungen zu begleiten. Selbst wenn man junge Tiere bei den ersten Schritten im Leben anschaut, kann es ein ähnliches Gefühl auslösen. Wir schauen uns quasi ein positives Gefühl von mehr Selbstwirksamkeit ab, wenn bei Anderen zum ersten Mal etwas gelingt. Wenn eine neue Erfahrung gemacht wird.

Das sind auch Glücksmomente

Häufig geht uns innerlich das Herz auf. Es kann sogar sein, dass es quasi „überfliesst“ und die Tränen kommen. Weil es so schön ist.

Es ist ein Schritt hin zu mehr Selbstwirksamkeit

Also der Erfahrung, dass man mit eigenem Handeln eine sinnbedeutende und nachhaltige Entwicklung in eine richtige Richtung machen kann.

Aber es ist häufig so flüchtig wie eine Seifenblase, die schnell zerplatzt, oder ?

Ich selber habe gewisse Probleme mit diesen ganzen Internetseiten bzw. Ratgebern, die nun über Zen-Methoden bzw. mehr oder weniger ähnliche Dinge den „richtigen Weg“ weisen wollen.

Ich bin eher ein zu rational denkender Naturwissenschaftler. Der aber eben bei seinen Klienten in der Klinik gerne mal ungewöhnliche Erfahrungen vermittelt. Der bewusst irritierend sein möchte. Positiv irritierend.

Das ist mein Job : Ich will und kann nicht den guten Rat für das ganze Leben verkaufen. Ich kann aber helfen, in eine Richtung von mehr Selbstwirksamkeit zu schauen bzw. dazu wirksame Werkzeuge für die Orientierung in die richtigen Richtungen zu geben. Damit man auf den richtigen Weg kommt bzw. nicht so schnell die Orientierung verliert.

Arbeiten mit inneren Bildern

Die Arbeit mit inneren Bildern = Imaginationsverfahren wie z.B. Traumreisen gehört wohl in den Handwerkskoffer von fast allen Psychotherapeuten. Egal, welche methodissche Ausrichtung sie haben. Wir Psychotherapeuten lieben es, wenn unsere Patienten neue positive innrere Bilder entwickeln. Oder sie in der Kunst- oder Kreativtherapie zu Papiier oder in eine Form bringen.

Ich selber kann nun aber eigentlich überhaupt nicht gut in inneren Bildern fühlen oder denken. Ich bin sogar häufig neidisch auf Klienten, die schon sehr spontan mit solchen Metaphern bzw. Form-Übersetzungen in ein Bild bzw. eine mehrdimensionale Form kommen.

Ich möchte Euch daher zeigen, wie man selber solche Beschreibungen für sich selber entwickeln kann bzw. wie man diese emotionalen Erlebnisse für sich haltbarer und letztlich auch therapeutisch nutzbar machen kann.

Solche Erlebnisse bzw. Dinge, die man also positive Gefühle oder Aktivitäten, eigene Stärken und dem Gefühl von innerer Stimmigkeit und Wertschätzung erlebt hat, muss (und kann) man stärken. Es sind Momente der Selbstwirksamkeit.

Wir stärkt man nun die eigene Selbstwirksamkeit über innere Bilder ?

Hier habe ich mal eine unvollständige Liste von positiven Nachrichten bzw. Glücksmomenten zusammengestellt,

  • Ein Moment oder eine Leistung von Ihnen, der „besser als erwartet“ war :
    Ein Gefühl, das „besser als erwartet“ ist : Z.B. einen hohen Berg mit dem Fahrrad schaffen, ein Puzzle zu Ende legen, eine spontane Umarmung etc..
  • Ein Gefühl, dass sie mit Sicherheit und Geborgenheit angenehm verbinden
  • Das Gefühl bei einer positiven Aktivität, die sie neu (oder wieder) in den Tag aufgenommen haben
    (z.B. wieder einmal Sport machen, ins Schwimmbad gehen, einen alten Freund / Freundin anrufen)
  • Eine Gefühl, das mit einer persönlichen Stärke verbunden ist (z.B. Musik spielen, Malen, Sport )
  • Das Gefühl für einen Moment, der ihnen eine neue Erkenntnis oder eine Lernerfahrung gebracht hat
  • Eine Situation, die sie besonders gut gemeistert haben
  • Ein Gefühl für Eigenschaften, die sie oder andere Personen an ihnen schätzen
  • Ein Körpergefühl (z.B. Entspannung), das für sie angenehm ist (z.B. Geborgenheit, Nähe)
  • Ein Nahrungsmittel, das sie mit Genuss verbinden. Z.b. das Backen einer Torte
  • Eine Lösung oder positive Wendung, die sie als entscheidenden Schritt nach vorne in ihrem Leben erlebt haben. Das kann auch der Glaube sein, ein netter Mensch oder eine andere Erfahrung
  •  Eine neue Lernerfahrung bei sich, seinem Kind oder einer anderen Person begleiten.

Positive Gefühle in Formbegriffe übersetzen

In meinem Blog habe ich ja schon häufiger auf innere Bilder hingewiesen.

Hier geht man ganz genauso vor, d.h. übersetzt das positive Gefühl oder Erlebnis in eine Bild-Form. Häufig ist es so, dass sich das Bild nicht gross verändert. Es wird aber „geschützt“ (wie ein Foto, das man laminiert) und leichter erinnerbar.

Was meine ich damit ?

1. Wie nehmen ein besonders schönes, besonders einprägsames Erlebnis.

2. Wenn dieses Gefühl nun eine bildhafte Form annehmen könnte, kommt ihnen ein inneres Bild in den Sinn ?

Welche Farbe könnte am besten zu dem Gefühl passen ?
Wäre das Gefühl eher rund oder vielleicht eckig ? Es darf auch gerne formlos wie eine Wolke sein…
Wäre das Gefühl eher warm oder vielleicht erfrischend kühl ?
schwer oder federleicht ?
hohl oder massiv ?
klingt es bzw. gehören Geräusche dazu ?
Hat es vielleicht einen Geruch ?
Bewegt es sich ?

Ein Patient von mir hat diese Woche auch schon von sich aus eine Art „Energiekugel“ sich vorgestellt. Diese imaginäre „Kugel“ hat er quasi zwischen seinen Händen gehalten. Auch sehr schön.

3. Versuchen Sie jetzt einmal ungefähr 10 Augenbewegungen von rechts nach links, wenn Sie sich das innere Bild bzw. die innere Form vorstellen.

Nehmen wir an, Sie haben für sich eine entsprechende Übersetzung gefunden, so kann man diese „Ressource“ bzw. das positive Gefühl jederzeit mit wenigen Augenbewegungen oder rechts-links-Aktivierungen hervorholen.

Häufig wirkt aber diese Bildform wie eine Art Drehzahlmesser bzw. Anzeige für emotionale Belastung und Stress.

Beispiel von Selbstwirksamkeit bei Kindern über innere Bilder und Metaphern

Das möchte ich am Beispiel eines 12 jährigen Mädchens verdeutlichen, die über eine hohe Stressempfindlichkeit mit entsprechend starken körperlichen Symptomen klagte. Kinder können in der Regel toll in Bildern fühlen, so dass das Vorgehen sehr leicht und innerhalb weniger Minuten wie ein Spiel funktionierte.

Zunächst ging es darum, ein Gefühl oder Tätigkeit zu finden, bei der Sie ganz und gar bei der Sache und in einem guten Gefühl war. Nach längerem Suchen beschrieb sie Schlagzeug als eine solche Aktivität

Das Gefühl Schlagzeug zu spielen übersetzte sie spontan als einen grünen Flummi aus Gummi, der wild vor ihrem geistigen Auge hin und her sprang.

Sie sollte sich den Flummi mal in der Mitte ihres Kopfes vorstellen und dann ein paar Augenbewegungen machen.

Nach wenigen Augenbewegungen wurde der Flummi ruhiger bzw. auch durchsichtiger bzw. klarer.

Das Mädchen, nennen wir sie mal Julia, hatte dann selber sofort eine (synästhetische) Verküpfungen erkannt. Der Flummi zeigte sehr deutlich Stress und emotionale Belastungen an.

Innere Bilder verändern sich wie die Gefühle bei synästhetischen Menschen&

Ich habe Julia dazu aufgefordert an eine Person oder ein Schulfach zu denken, dass ihr Sorgen bereite. Wo sie vielleicht eine Note besser wäre oder nicht blockiert wäre, wenn diese Person nicht so ein negatives Gefühl auslösen würde. Oder an Liebeskummer, der weh tut.

Julia hatte sofort eine passende Situation :
Sie ist ein sehr sprachbegabtes Mädchen. Daher hatte sie als Wahlfach Spanisch gewählt. Aber ihre Spanisch-Lehrerin ist so ganz und gar nicht „spanisch“. Sie vermittelt weder Lebendigkeit, noch die Freude an Sprache. Vermutlich war sie selber noch nie in diesem schönen Land.. Und die eigenen Sprachkenntnisse sind auch eher auf dem Niveau einer schlechten Maschinenübersetzung. Fürchterlich.

Bei Gedanken an Probleme wurde der Flummi dunkler, so als ob eine schwarze Tusche mit in das klare Grün gemischt würde. Zudem veränderte sich die Rotatation bzw. Bewegung des Flummis.
Beim Gedanken an die Lehrerin wurde aus dem Flummi ein Kaugummi

Einige Augenbewegungen über diesen Flummi und er wurde wieder klarer (wobei sie dann sehr genau sagen konnte, was sie im realen Leben tun müsste, um dies auch tatsächlich dauerhaft umzusetzen).

Wie viele hochsensible Menschen gab Julia dann an, dass der Flummi besonders durch die Gefühle von anderen Menschen (ihre Eltern und bestimmte Lehrer) beeindruckt würde. Beeindruckt deshalb, weil er so Dellen zeige.

Julia kann jetzt die (synästhetische) Übersetzung in einen Flummi quasi wie eine Gefühlsanzeige nutzen ! Sie erkennt, wenn sich ihr emotionaler Zustand bzw. die Aussenbelastungen verändern anhand des inneren Bildes ! Das ist ungleich besser, als körperliche Frühwarnsignale von Stress und Belastungen.

Hier haben wir bei einem Kind ein tolles Beispiel dafür, dass die Übersetzung in die Bild-Form einfach viel bessere Informationen und Handlungsmöglichkeiten als die Fehlübersetzung in psychosomatische Beschwerden liefert. Aber auch Erwachsene (und sogar Therapeuten, die an der Methode zweifeln und nicht daran glauben, dass so eine einfache Methode funktionieren kann) können dies mit ein wenig Kreativität (und Ausschalten der Logikkontrolle und Besserwisserei des Frontalhirns) ganz einfach hinbekommen.

Negative Erfahrungen über innere Bilder verarbeiten

Julia beschrieb dann die Veränderung wie ein Kaugummi. Es stellt sich also die Frage, wie man denn nun Kaugummis dauerhaft entfernen kann.

Ich erklärte Jullia, dass Psychologen und ärztliche Psychotherapeuten halt Fleck für Fleck in Angriff nehmen und Kratzen, um den Fleck zu entfernen.

Na ja., das war jetzt sehr übertrieben negativ.

Ich fragte Julia, wie ihre Mutter denn Kaugummis entfernen würde.

Na, dafür gibt es doch Trockeneis. Einfach drauf sprühen und dann lässt sich der Kaugummi rückstandlos entfernen.

Genau.

Und genauso machen wir es mit der Übersetzung in innere Formbegriffe auch.

Ich habe dafür Julia aufgefordert sich mal in meinem Zimmer ganz viele Kaugummiflecken vorzustellen, die für frühere ähnliche negative Erfahrungen stehen.

Mein Zimmer wäre demnach mit klebenden, stinkenden, grauen Kaugummiflecken übersäht.

„Mein Problem ist halt auch, dass ich da so leicht in einen der alten Kaugummis reintrete wie ein Fettnäpfchen“, so Julia.

Das aktiviert dann aber eben das klebrige, negative Gefühl von allen früheren Situationen. Mein Gehirn unterscheidet offenbar nicht, ob es eine aktuelle oder eine uralte Situation ist.

Vielmehr werden eben alle ähnlichen Situationen mit aufgerufen. Und das ist dann ein fürcherliches, zähes Gefühl.

Julia war damit selber auf eine ganz wichtige Erfahrung gestossen.

Ich bat sie also, sich die Kaugummiflecken ihres Lebens jetzt als Zeitleiste vorzustellen.

Und dann haben wir halt auf die gesammte Zeitleiste Augenbewegungen gemacht.

Die Flecken wurden weniger. Einige wenige Flecken bliieben. Sie klebten aber nicht mehr. Und sie zeigten sich als „alte Flecken“, die man eben vielleicht noch nicht entfernen kann. Weil sie so eingetreten sind.

Aber es war ein guter Anfang.

Weil Julia eine Methode für sich entdeckte, die sie nun in ähnlichen emotionalen Be-Lastungen anwenden kann.

Sie selber übersetzte dann noch gerade aktuellen Liebeskummer in eine Bildform…. Aber das ist eine neue Geschichte…

Mehr dazu auch auf www.emoflex.com

Die neue Armut : Zeitmangel und Zeitwohlstand

  • Zeitmangel ist die einzige Not, die den Menschen nicht zu schmerzen scheint
    (Ernst Reinhardt)

Seit etwa einem Jahr tausche ich Zeit gegen Entfernung von meiner Familie. Ich arbeite ca 280 km entfernt, habe dafür aber einen Freitag als freien Tag gewonnen. Zudem habe ich keine Wochenenddienste mehr, die in aller Regel von Samstag durchgängig bis Montag abends mit an die Klinik fesselten.

Ich tausche also Zeit ein. Ein wenig auch gegen Geld, sehr stark aber gegen Entfernung von meiner Familie. Aber möglicherweise (wahrscheinlich) belaste ich damit das Zeitkonto meiner Frau.

Aber letztlich hat es sich (bisher) durchaus positiv ausgewirkt, dass ich mir mehr Zeitwohlstand leiste.

Aber es ist Grund genug sich darüber Gedanken zu machen, wie man nun Zeit gegen Geld bzw. Freiheit aufwiegen kann.

Passend dazu hörte ich auf der Heimfahrt am Donnerstag ein Interview im Deutschlandfunk mit Prof. Merz von der Leuphana Universität Lüneburg

Multidimensionale Armut : Zeitdefizit und Zeitwohlstand

Es geht um eine multidimensionale Armutsdefinition mit der zusätzlichen Dimension Einkommen und Zeit. In Deutschland zählen 6,8 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Sie gehören zu den „working poor“ obwohl sie 5 h und mehr arbeiten, aber nicht genug Geld damit verdienen können.

Es gibt aber nach Merz und Mitarbeitern eine neue Armutszone, die durch einen Mangel an Freizeit = freie Zeit definiert wird.

Das sind also Menschen, die zwar ein ausreichendes Einkommen haben, denen aber durch Arbeit, Kindererziehung bzw. Kinderbetreuung oder andere Verpflichtungen wie z.B. die Pflege von Angehörigen keine Zeit mehr bleibt. Sie leben in einem ständigen Zeitdruck bzw. Zeitmangel durch Stress.


12,3 Prozent der Deutschen sind in der neun Zeitarmut

Das ist gut doppelt so viel wie nach der herkömmlichen Armutsdefinition, die nun „nur“ die finanzielle Lage berücksichtigt. Hier geht es nicht nur um Zeitmangel bzw. Zeitdruck und Stress. Es geht um einen Index, der eben die verfügbare Zeit und die verfügbare finanzielle Situation berücksichtigt.

Ist Zeit nun Geld ?

Finanzieller Druck mit einem überzogenen Dispo bei der Bank fühlt sich durchaus ähnlich an wie ein überzogenes Zeitkonto bzw. Zeitmangel. Wir sehen es häufig nur nicht so. Wir gehen eine Zeitschuld ein, so wie viele Menschen über eine Kreditkarte halt materielle Güter erwerben, die sie sich nicht leisten können.

Die Lebensqualität bzw. Zufriedenheit wird also in ähnlicher Weise durch einen Mangel an Zeit wie ein Minus auf dem Konto beeinflusst.

Zeitarmut ist nicht so ablesbar wie rote Zahlen auf dem Girokonto. Da ist es schon eine nette Aktion, wenn ein Künstler Banknoten für eine Zeitwährung vorstellt.

Zeitarmut : Die üblichen Verdächtigen für die Armutsgrenze

Zeitmangel lässt sich durch ein höheres Einkommen ausgleichen.
Zumindest ansatzweise. Ein höherer Bildungsabschluss wie das Abitur schützt vor Zeitarmut. Zumindest sind dann „nur“ noch 9,4 Prozent der Akademiker gegenübe 12,6 Prozent der „Normalbevölkerung“ von multidimensionaler Armut (unter Berücksichtigung der Zeitschuld) betroffen. Auch noch viel.

Prof. Merz in Lüneburg forscht überwiegend über „freie Berufe“, d.h. auch oder gerade Selbstständige.

Über 2/3 der Selbstständigen bzw. Freiberufler sind „zeit-arm“.

Sie haben damit weniger als 60 Prozent der Freizeit zur Verfügung, die in der Erhebung von rund 35000 Personen hinsichtlich ihres persönlichen Zeitbudget in den Jahren 2001 / 2002 ermittelt wurden.

29,4 Prozent der Selbstständigen sind also nach dieser Armutsdefinition betroffen.

Das können Einzelhändler, Gastwirte, Ärzte, Rechtsanwälte oder sonstige Freiberufler sein. Die eben weit längere Arbeitszeiten als die durchschnittlich arbeitende Bevölkerung haben. Und dies eben nicht durch Geld ausgleichen können.

Aber man muss nun nicht Unternehmer oder Einzelhändler sein, um unter die neue Armutsgrenze zu fallen

• 19,9 Prozent der Alleinerziehende sind durch die Mehrfachbelastung von Geldverdienen und Zeit für Kinderbetreuung und Erziehungsaufgaben von Zeitarmut nach dieser Definition betroffen
• Kinderreiche Familien mit 3 oder 4 Kindern leiden zu 31,6 Prozent an Symptomen dieser Zeit-Armuts-Definition

Aber ob man nun ein Zeitmangel für Spielen mit seinen Kindern oder schöner Zeit mit seiner Partnerin mit einer Geld ausgleichen kann oder gar sollte ? Sicher nicht !

Zeitarmut führt zu Depressionen

Begriffe wie Burnout oder Erschöpfungsdepression sind in aller Munde.
Im Deutschen Ärzteblatt lese ich eine Erhebung die sich letztlich auch mit dem Zusammenhang von
Burnout und Depressionen durch Zeitarmut beschäftigt. Dabei geht es um die Auswirkungen von ständiger Erreichbarkeit, Flexibilität im Beruf bzw. „Bereitschaft“ zu Überstunden beschäftigt. Danach sind 2/3 der Berufstätigen mit ständigen Überstunden belastet, 22 Prozent sind dann auch in der „Frei-Zeit“ für den Arbeitgeber abrufbar bzw. ständig erreichbar. 18 Prozent der 2000 befragten Arbeitnehmer gaben an, private Aktivitäten deswegen ausfallen zu lassen.

Fast jeder 4. Befragte gab an, aus diesem Grund zu erschöpft zu sein, privaten Verpflichtungen bzw. Hobbys nachzugehen.
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Letztlich ist aber eine deutliche Übereinstimmung in der Lebenswirklichkeit hinsichtlich Zeitwohlstand bzw. Zeitarmut der Patienten in der Klinik mit den Einweisungsdiagnosen wie Burnout, Erschöpfungsdepression etc zu sehen.

Und wenn man es sich genauer anschaut, so erfasst der neue multidimensionale Armutsbegriff eigentlich ganz gut genau die Zielgruppe, die uns jetzt zu erhöhten Fehlzeiten in den Betrieben bzw. Bedarf an ambulanter oder stationärer Behandlung im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie führt.

Wir haben bei uns in der Klinik immer mehr Alleinerziehende, Mütter und Väter von „kinderreichen“ Familien und eben auch Selbstständige unter unserer Patienten.

Anders ausgedrückt : Erschöpfungsdepressionen und Burnout sind häufig auch als überschrittener Dispo im Zeitkonto zu verstehen. Daneben verunmöglichen Arbeitsplatzkonflikte bzw. Mobbing und Stalking häufig eine Erholung in der Freizeit.

Es sind die „Zeit-Arbeiter“ der Moderne, die eben besonders gefährdet für ein Ausbrennen sind. Ihren rinnt quasi die Zeit wie anderen Geld durch die Finger.

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Und die Erwartung an Zeitkrediten an den Arbeitgeber wird eben immer stärker. Dies betrifft beispielsweise Erzieherinnen in Kindergärten oder Betreuer in Wohngruppen, die dann den krankheitsbedingten Ausfall von Kolleginnen oder Einsparungen der öffentlichen Hand mit einem Zeitkredit auf ihre Gesundheit einlösen sollen. .

Ein Kredit, der aber nicht zurückgezahlt wird. Häufig werden ja noch nicht mal die Überstunden finanziell abgegolten.

Krankschreibung und Erwerbsminderungsrente als Ausstieg aus der Zeitschuld-Spirale ?

Immer weniger Menschen fühlen sich gesundheitlich in der Lage, weiter ihr Zeitkonto zu überziehen. Sie kündigen ihrem Arbeitgeber den ungedeckten Zeitkredit. Sie würden gerne ein Inkassobüro beauftragen die ungedeckten Forderungen einzutreiben.

Krankschreibungen bzw. der Wunsch nach einer Erwerbsminderungsrente wegen psychischer Probleme erscheinen dabei als Ausweg aus der Zeitarmutsfalle.

Letztlich irgendwo nachvollziehbar. Doch die sozialmedizinischen Regelungen für Leistungsfähigkeit berücksichtigen eben gerade nicht die Auswirkungen dieser multidimensionalen Zeit-Armut.


14 Tage Krankrscheibung wegen Burnout oder Erschöpfung decken das Zeitkonto nicht !

So verständlich ein Wunsch nach einer Aus-Zeit auch ist, so wenig wird damit das eigentliche Problem gelöst.

Häufig wird dann einfach abgewartet. Es wird auf Zeit gespielt, zumal ja 18 Monate Lohnentgeltszahlungen möglich sind. Aus Sicht der Betroffenen verständlich.

Aus therapeutischer Sicht aber meist keine gute Idee. Einmal davon abgesehen, dass dann selten eine Psychotherapie zeitnah verfügbar ist, so wird man das Problem vermutlich auch nicht über Psychopharmaka oder eine Gesprächstherapie allein in den Griff bekommen. Zumindest dann nicht, wenn man sich nicht mit der Zeitbilanz bzw. „Life-Balance“ beschäftigt.

Es geht also genau um die von in der Studie erfasste Gruppe von Berufstätigen, die nun über 5 bzw. 6 h am Tag arbeiten müssten, dies aber aus Zeitarmutsgründen nicht mehr können.

Die sozialmedizinischen Kriterien von Leistungsfähigkeit berücksichtigen dies aber so nicht.
Es geht um einen abstrakten Begriff von Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Danach ist Leistungsfähigkeit gegeben, wenn irgendeine leichte bis mittelschwere Tätigkeit über 6 h ausgeübt werden kann. Unabhängig von der Frage, welche Faktoren sonst das individuelle Zeitlebenskonto belasten.

Zudem wird gefordert, dass auf absehbare Zeit (also ein Zeitraum von mindestens 6 Monaten bzw. 2—3 Jahren) eine Besserung theoretisch möglich wäre. Also im Prinzip eine Therapie in Form von mehreren Antidepressiva, ambulanter oder stationärer Psychotherapie ernsthaft versucht wurde, aber keine Aussicht auf Erfolg haben wird.

Aus sozialmedizinischer Sicht werden die meisten Gutachter dann also die Betroffenen „gesund schreiben. “.

Selbst wenn es sich ganz und gar nicht gesund anfühlt.

Mal ganz davon abgesehen, dass eine vorzeitige Berentung in aller Regel mit einem Absturz auf Hartz IV-Niveau führt und damit wiederum unter die Armutsgrenze. stürzt

Gibt es Wege aus der Zeitinsolvenz ?

Auch wenn eine Berentung dann also vielleicht zu mehr freier Zeit führen würde, ist dies also keine wirkliche Lösung. Wenn dann Patienten von der Rentenversicherung in die Reha-Kliniken zugewiesen werden, ist die Zeit für eine Veränderung meist schon abgelaufen. Es droht die Zeit-Insolvenz.

Das wird auf Dauer verdammt teuer für unsere Sozialsysteme und letztlich auch den qualifzierten Arbeitsmarkt. Uns werden zukünftig schlicht und ergreifend Arbeitnehmer fehlen oder die Rentensysteme das nicht auffangen können.

Es ist an der Zeit sich mit neuen Wegen zu mehr Zeitwohlstand bzw. Wegen aus der Zeitarmut zu befassen.