Warum man sich in einer Therapie KEINE Ziele setzen sollte

In meinem Blog Seelenklempneei und in meinem therapeutischen Leben stelle ich häufig scheinbar unumstössliche Geflogenheiten der Therapeuten in Frage bzw. auf den Kopf. Heute geht es um das bei allen Coaches oder Psychotherapeuten so beliebte Theme :

Sie müssen sich Ziele setzen.

In jedem Problem-Lösetraining geht es darum. In etwa in der folgenden Reihenfolge

  1. Schreiben Sie ihr Ziel / ihre Ziele auf
  2. Formulieren Sie die Ziele spezifisch und klar (oder SMART)
  3. Sorgen Sie dafür, wie die Zielerreichung auch erkannt bzw. messbar wird
  4. Setzen Sie sich eine Deadline = Endpunkt bzw. eine Timeline = zeitlicher Ablaufplan für die Zielerreichung
  5. Verknüpfen sie die Zielerreichung mit Belohnungen oder aber einer negativen Konsequenz bei Nicht-Erreichen.

Das ist für uns Verhaltenstherapeuten schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass man es gar nicht mehr hinterfragen würde. Zudem ist unsere Gesellschaft ja ziel- und leistungsorientiert.

Heute habe ich aber auf einer Fachtagung von von Reha-Medizinern den schönen Gedanken gehört, dass gerade die ständige Qualitätssicherung bzw. Zieldefinition und Zielforderung in unserer Gesellschaft Krankheit bzw. Störungen erzeugt.

Dort wurde nun nicht hinterfragt, ob man auch therapeutisch nun auf Zieldefinition bzw. zielorientiertes Problemlösetraining verzichten sollte.

Aber aus meiner Sicht spricht viel dagegen, dass man über das Setzen von Zielen zu Erfolgen kommt.

Aus einem sehr einfachen Grund :

In der überwiegenden Zahl der Ereignisse werden die Ziele ja nicht erreicht und damit kein Erfolgserlebnisse sondern Frustration ausgelöst und verstärkt.

Ich versuche mit meinen Patienten auch Therapieziele zu formulieren. Aber eher von der Art :“Wenn Sie die Ziele schon alle erreicht hätten und am Ende der Therapie stehen würden, was wäre JETZT anders“. Dieses andere Gefühl versuche ich dann zu aktivieren (beispielsweise wie die Ameise und der Apfelbaum) bzw. vor Augen zu führen.

Natürlich kann und sollte man ansonsten auch immer wieder das Gefühl verstärken, wie man ein Problem „gelöst“ hat. Also eine positive Wendung im Leben gefunden hat.

Das ist nicht immer identisch mit der Frage, was denn ein Ziel ist. Ziele zu erreichen kann sich doof und gefühllos anfühlen. Aber den richtigen Schritt zu machen, kann ganz entscheidend sein.

Kleine Schritte zu machen, die in Richtung von Veränderung gehen bzw. auch mal in die falsche Richtung sich bewegen und das zu erkennen und zu drehen kann wichtiger als Zielsetzungen sein.

15 Gedanken zu „Warum man sich in einer Therapie KEINE Ziele setzen sollte

    1. bettyblue02

      Hier eine Bitte an all die Therapeuten, die diesen Blog verfolgen und die ihre Kraft und Energie dafür einsetzen, einen wirklich Wert-vollen Beitrag zu leisten zum Wohl ihrer Patienten:
      Scheuen Sie sich nicht, das Thema “Parentifizierung” anzusprechen! Diese familiensystemische Konstellation ist Ursache großen Leids für die Betroffenen. Doch es kann Jahre, ja: Jahrzehnte dauern, bis beim Patienten der Groschen von alleine fällt. Wertvolle Lebenszeit geht auf diese Weise verloren. Lebenszeit, die nicht nur geprägt ist von Depression, sondern oft genug von Süchten, Essstörungen und anderen Formen der Selbstverletzung/ -zerstörung.
      Mir war die Dynamik der Parentifizierung nicht bewusst, bis das Leben selbst die Umstände lieferte für Erkennen und Befreiung. Weder Therapeut noch Psychiater haben mir auf die Sprünge geholfen, und heute sage ich: Dies war ein Fall von unterlassener Hilfeleistung!
      Als ich meinen Therapeuten damit konfrontierte, entschuldigte er sich bei mir, stellen Sie sich das einmal vor! In all den Jahren der Therapie (und es waren einige!) hatten wir am eigentlichen Problem vorbei geredet, waren nicht zum Punkt gekommen, und am fehlenden Wissen des Therapeuten kann das m.E. nicht gelegen haben. Eher schon am fehlenden Mut oder aber: an Bequemlichkeit.
      Das Buch “Das Drama des begabten Kindes” von Alice Miller sollte ein Standardwerk sein für alle Therapeuten. Eine Freundin hat es mir empfohlen. Eine Freundin, die mich kannte. Eine Freundin, die NICHT dafür bezahlt wurde, mir zu helfen… Eine Freundin, die sich wirklich um mich sorgte. Und die keinen Nutzen daraus zog, dass es mir weiterhin schlecht ging.

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  1. leidenschaftlichwidersynnig

    Eben! Und deshalb ärgert es mich auch so, wenn unsere Grundschüler schon Zielvereinbarungsgespräche machen müssen, dies dann am Arbeitsplatz fortgesetzt wird und findet man sich irgendwann in einer Therapie wieder, geht es weiter mit dem Blödsinn.

    „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu sammeln, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“

    Keine Ahnung, von wem das ist, aber diese Haltung ( inkl. was wäre wenn …..) bringt einfach mehr.

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  2. www.ralfhauser.wordpress.com

    Zielen heißt auch verzichten. Man geht durch eine Tür und eine andere schließt sich. Dazu habe ich auch mal einen Artikel geschrieben. Ziele sind nicht immer was wunderbares, weil man sich entscheiden muß. Aber ohne Ziel ist jeder Weg richtig. Und dann wird es planlos.

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  3. Michaela

    Das hört sich für mich sehr plausibel an. Aber wie verklickert man so etwas dann dem oder den Therapeuten ohne das die einen für stur oder bockig halten?

    Wahrscheinlich würde ich das dann brav so machen wie es von mir verlangt würde einfach um dem Therapeuten zu gefallen. Aber sobald es dann darum ginge das auch alleine zu Hause ohne Kontrolle umzusetzen, wäre das sofort kein Thema mehr. Weil mir das einfach nur auf den Keks gehen würde und mir das viel zu umständlich wäre.

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  4. Mademoiselle Melony

    Die Frage ist ja, warum so viele Ziele nicht erreicht werden.

    Auch wenn mein Kommentar nun ein wenig an dem eigentlichen Anliegen Ihres Beitrages „vorbei“ geht, möchte ich dazu etwas schreiben. Denn Ziele erreichen zu können, das ist auch eine äusserst wichtige Fähigkeit, vor allem, wenn es um eine bewusste, aktive, an den eigenen Bedürfnissen orientierte Lebensgestaltung oder sogar um Lebensziele geht.

    Ich behaupte: Ziele werden so oft nicht erreicht, nicht weil es etwa an smarten Zielbeschreibungen oder ausgefeilten Ziel-Erreichungs-Prozessen fehlt, sondern weil das gesetzte Ziel nicht dem eigentlichen Wesen des Menschen entspricht.

    Zielsetzungsprozesse sind in der Regel logische, lineare Prozesse. Aber unser Ratio, unser Verstand, das sind nur 50% unseres Daseins. Die anderen 50% sind das Irrationale, das Chaos, die Intuition, das Nicht-Lineare, die Emotion, das Gefühl, die lustbetonten, nicht logischen Neigungen.

    Wir leben in einer polaren Welt und wir brauchen die eine Seite, um die andere Seite zu erkennen. Ohne das Leiden zu kennen wissen wir nicht was Glück ist und so weiter. Und dieser Spannweite des menschlichen Daseins müssen wir gerecht werden, auch bei unseren Zielen und bei Veränderungsprozessen.

    Es gibt ja dieses berühmte Gedicht „Stufen“ von Herman Hesse: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne“. Hesse schreibt vom Herz, nicht vom Verstand. Und ich glaube, das ist kein Zufall.

    Wir müssen sicher stellen, dass unser Ziel nicht nur ein „Verstandes“-Ziel ist, das „richtig“ ist und sich formal korrekt anhört. Es muss ebenso vitale, nicht-logische, lustbetonte, nicht kontrollierbare oder nicht messbare Komponenten enthalten, so widersprüchlich sich das auch anhört.

    Wie holen wir die anderen 50% in unsere Ziele? Indem wir uns – in Bezug auf das Ziel-Thema – fragen:

    Was assoziieren wir dazu?
    Was sagt die innere Stimme, die Intuition?
    Was zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich? Was spricht uns an, zieht uns unerklärlicher Weise in seinen Bann? (Gerade wenn es „unlogisch“ ist!)
    Was versetzt uns in einen Flow-Zustand?
    Welche Bilder, Filme, Mythen, Märchen, Phantasien, Fantasy-Werke, Geschichten, Legenden, Begebenheiten zu diesem Thema faszinieren?
    Was bringt Lust?
    Welche Vorstellung und Visionen über dieses Thema war schon immer da?

    Zudem – aber das würde nun zu weit führen – ist der Prozess der Zielerreichung natürlich kein linearer Prozess, auch wenn wir uns das noch so gerne so ausmalen. Es gibt Hürden, Umwege, Ereignisse, Hindernisse, neue Information – wir leben in einer äusserst komplexen, dynamischen, informationsgetränkten Welt, die den einzelnen Menschen im hohen Ausmaß beeinflusst. Das erfordert manchmal Korrekturen am Ziel. Damit muss nicht nur der Patient klar kommen – auch der Therapeut. Denn das ist kein „Versagen“ oder Nicht-Erreichen von Zielen.

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  5. Unsinnstifter

    Ich mag ja die Manipulation von Gefühlen nicht. Denn die Instrumentalisierung und Spaltung des Gefühls als Objekt eines Begehrens spaltet das Gefühl aus seinem natürlichen Prozess ab und macht das Gefühl unnatürlich, unspontan und unecht.

    Davon abgesehen kann ich jedoch mit Ihrer Idee, die Zielorientierung zu überdenken einiges Anfangen.

    Die Qualität der Ziele sollten definiert werden. Auch sollten Ziele im Sinne beruflicher, persönlich/privater Ziele getrennt werden. Alleine schon weil das nicht dasselbe sein darf. Selbst wenn man mit ganzer Seele Psychotherapeut ist, sollte man immer wissen, das es ein Beruf ist, so eng der auch mit der eigenen Identität gekoppelt ist, muss der Mensch, Mensch bleiben und die Überschneidung des Berufs mit dem Privaten bewußt ablaufen.

    Was ich meine, Ziele sind nötig. Sie sind Ordnungskonstanten in einer Welt, die immer weniger Rahmenbezüge hat. Zielstrukturen sind Werkzeuge, wie ein Fahrplan, eine Wegbeschreibung für die Reise des eigenen Lebens.
    Ihr Schritt, blinde automatisierte Zielsetzungen, unhinterfragte Therapiestrukturen wieder zu hinterfragen und damit leblose Therapiestrukturen wieder zu Beleben – aus der betonierten TO-DO-Liste der Therapieabläufe auszubrechen – DAS ist die Leistung Ihrer Überlegungen, das Ziele setzen, darauf kann man afaik nicht wirklich verzichten.

    Worauf wir verzichten sollten, ist Erfolg und Mißerfolg am Erreichen der Ziele zu messen, unser Wohl und Wehe diesem Erreichen der Ziele in simplen Projektformaten auszusetzen. Denn nicht die Ziele sind das Problem, sondern die Leistungsideologie dahinter, dieser unstillbarre Produktivitätsdrang/-Pflicht?! der/die ja nicht nur unsere Gesellschaft heute bestimmen will, nein, dieser Drang ist Teil unserer Identität geworden und das ist das Problem. Nicht wir bestimmen mehr unsere Ziele, unsere Ziele bestimmen uns! Damit verdinglichen wir Ziele, machen Sie zu etwas das man ergreifen könnte – verlieren dabei jedoch aus den Augen, das das Leben nicht aus Siegerehrungen besteht, sondern aus den einzelnen Läufen und Vorbereitungen, aus der Arbeit um die einzelnen Zielabschnitte zu erreichen.

    Ziele, die oft durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen vorgegeben sind. Dennoch lassen sich diese Ziele auch auf die Motive unseres Selbst herunterbrechen, einfache Grundbedürfnisse, die wir damit zu erfüllen versuchen. Suche nach Anerkennung, Geben von Anerkennung, Geliebt werden, Lieben dürfen, Bequemlichkeit …

    Zielsetzungen sind Werkzeuge
    Ziele sind für einen modernen Menschen wie die Jahreszeiten für einen Bauern. Sie sollten auch so angelegt sein. Der Bauer wußte ja, es kommt eine Ernte, aber ob die Gut war? Das war nicht klar. Aber die Jahreszeit stand fest. Dann wusste er: Ich muss mich zum arbeiten auf das Ziel hin berappen. Ziele erreichen sich eben nicht von alleine, man muss etwas tun, wenn man etwas erreichen möchte.
    Ziele kündigen also einen Arbeitsprozess an. Arbeitsprozesse haben einen Anfang und ein Ende, sollten es haben. Planung räumt allem einen angemessenen Platz ein und sortiert uns zeitlich und räumlich.

    Damit wir aber nicht diesem Druck ausgesetzt sind, damit wir uns nicht unseren Zielen unterwerfen, sondern die Verfolgung der Ziele lebhaft bleibt und nicht unsere Selbstgewählte Zuckerbrotpeitsche wird, müssen wir die Motive hinterfragen, die mit den Zielen verbunden sind und ob diese überhaupt mit unserer Identität, unserem Selbstverständniss und gewünschten Lebensinhalten übereinstimmen.

    Die Bedienungsanleitung für das setzen eigener Ziele, Selbst-Autonomie beim setzen der Ziele, das ist das was gelehrt werden sollte. Dann sind Ziele auch keine Korsetts, die die Luft zum atmen abschnüren, sondern werden zum Puls der eigenen Lebendigkeit und bilden die Stufen eines eigenen, verinnerlichten Siegertreppchens ab, auf dem man sich voller Selbst-Bewußt-Sein immer auf Platz 1 sehen kann, wir brauchen und solltens uns gar nicht vergleichen, dann sind wir immer „irgendwie“ Gewinner unseres Lebens 🙂

    MFG

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  6. Griesel

    Muss man den immer Ziele haben ? Ich finde nein ! Und muss ich mich denn ständig hinterfragen? Danch schaun, was hab ich erreicht, was nicht, was sollte ich mir vornehmen – ich galube genau das lles ist krank bzw. macht krank. Das ist doch der Punkt.

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  7. anjavonknobelsdorff

    Lieber Herr Dr. Winkler, ich muss Ihnen widersprechen. Es gibt ein Ziel, das Ausgangs- und Endpunkt einer Therapie sein kann/ soll/ muss. Das Ziel der Selbsterkenntnis und wie der Patient dieses Selbst behandeln soll, so dass es dem Selbst bzw. dem Patienten gut geht.
    Der Therapeut ist Begleiter dieses Prozesses und als solcher m.E. verpflichtet, an geeigneter Stelle zu intervenieren. Ein bloßes mitfühlendes Abnicken dessen, was der Patient von sich gibt, mag in kritischen Situationen angebracht sein, taugt auf lange Sicht aber definitiv nicht.

    Um von der Erfahrung und vom Wissen eines Therapeuten zu profitieren, ist es nötig, dass dieser hin und wieder seine neutrale Position aufgibt und dem Patienten ein echtes Feedback gibt darüber, was sich in seinen Augen im Leben des Patienten abspielt. Nur so kann dieser sein Selbstbild überprüfen und gegebenenfalls revidieren. Input und Intervention müssen sein, wenn der Therapeut nicht in den Verdacht geraten will, den Patienten auf seine Kosten bzw. die Kosten der Krankenkasse einfach nur in der Warteschleife zu halten.
    Für Sie als angestellter Klinikarzt mag diese Sichtweise keine Rolle spielen, für niedergelassene Ärzte allerdings schon.

    Mit herzlichen Grüßen für ein schönes Wochenende,
    Anja v. Knobelsdorff

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